Das Buch des Monats Juni 2002: Elementarteilchen Taschenbuch von Houellebecq, Michel |
Ein Muss für
Schirrmacher und andere Gentechniker ;-)
Das
Buch ist ein schlechtes Buch. Aber ein schlechtes Buch im guten Sinne,
eventuell im schlechten der meisten etablierten Literaturkritiker ;-) . Erzählt
wird die oft sehr traurigmachende und dann wieder trotzauslösende Geschichte
der beiden Halbrüder Bruno und Michel. Beide stehen für die ambivalente
Unvernunft der Fleischlichkeit und die Überwindung des Todes sowie die Rettung
der Welt durch die Naturwissenschaften. Ganz verkürzt wiedergegeben....
Houellebecq
bleibt seinen zentralen Themen, die er in „Ausweitung der Kampfzone“ anriß, auch in Elementarteilchen
treu: Sex, Sex, Sex, traurig und unpersönlich als Weltenflucht,
Beziehungslosigkeit, Kritik am kapitalistischen wie sexuellen Wettbewerb,
„Haut“ zwischen den Welten, der Verdammung eines ausufernden Individualismus
und Liberalismus. Und auch sein Antiislamismus bleibt Attitüde – da scheint
seine Kritik am Islam, Judentum und Christentum gleichermaßen stumpf. Grundmotive scheinen sich bei ihm nicht zu ändern –
na ja, Balzac hat sein Leben lang auch nur über Geld und Liebe geschrieben, und
dabei ein ganzes Universum entworfen.
Wenn man sich an den doch sehr eindeutigen – zum Teil zu eindeutigen - Beschreibungen der sexuellen Kontakte und Akte, unerquicklichen Begegnungen, Beziehungen und Todesfällen und sonstwie suberfreulicher „Geschehnisse“ nicht stört, ist in der heutigen Zeitbezogenheit nicht zu verstehen, warum das Buch einen solchen Skandal auslöste.
Blendet man aber in’s Erscheinungsjahr 1999 zurück, in welchem Frank Schirrmacher noch nicht die Naturwissenschaft als neue Humanwissenschaft in’s feuilletonistische Zentrum der FAZ rückte, so kann man die Kritik an Michels „Lösungsangebot“ und Umsetzung der Gentechnologie in Form des „verlustfreien“ Klonens zur Rettung der Menschheit durchaus nachvollziehen. Wie so oft hat sich der Autor als Tabubrecher betätigt und eine interessante und wichtige Diskussion mitangestoßen. Handwerklich bleiben Mängel, andersherum schafft er es wieder, eine sehr dichte und objektive Atmosphäre zu schaffen..
Wer sich nach misanthroper
Literatur verzehrt, wird hier im Übermaße fündig. Und auch ich muß mal wieder
über den Lebensweg einiger meiner Freunde räsonieren: Wie bei "Ausweitung der
Kampfzone" mußte ich situationsbezogen unheimlich oft an einzelne
Begebenheiten denken. Sehr subtil und verdichtet gibt er drei Todesfälle
wieder, die jeweils verheerende Wirkung haben: Verlust der Geborgenheit und
Kindheit, Verlust der erfüllten Sexualität (nach langer Suche) und Liebe, die
in bodenlosem Zynismus und letztendlich in der Psychiatrie endet sowie – wenn
auch ohne Völkermord – Abschaffung der Menschheit durch eine Diktatur des
humangenetischen Gleichheitsglückes.
Sehr
passend zu dem Rückblick aus dem Jahre 2079 auf den letzten Seiten des Buches –
nachdem die Botschaft und Vision Michels fast auf der ganzen Erde umgesetzt
wurde – sind die aktuellen Worte Fukuyamas, der es schafft, den Bogen zu einem
zentralen Thema Houellebecqs, der Depression, und der Bekämpfung derselben zu
schlagen:
"Prozac wird vorwiegend Frauen verschrieben, die
unter Depressionen leiden und denen es an Selbstwertgefühl mangelt, es
verschafft ihnen mehr von den `männlichen Überlegenheitsgefühlen`, die mit
hohen Serotoninwerten zusammenhängen. Ritalin wird auf der anderen Seite vor
allem an Jungen verschrieben, die in der Klasse nicht stillsitzen wollen, weil
die Natur sie nicht dafür geschaffen hat, sich so zu verhalten." Genau
besehen also "benutzen wir bereits Psychopharmaka, um unsere Kinder zu
geschlechtlichen Zwitterwesen zu machen, (...)"
[Francis Fukuyama, Das Ende des Menschen]
Es wäre mal interessant zu
erfahren, wie Houellebecq
zu Prozac steht. Vielleicht schreibt er ja nach der Überwindung des
Sexpauschaltourismus’ das Buch „Männer die Prozacco trinken“...
Heiko Schomberg, 19. Juni
2002
[www.heiko-schomberg.de/buchempfehlungen.htm]
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