Auftritt beim Angstgegner!

Fever Pitch on the rocks: Gladbach @ Hannover.
Samstag, 19. Februar 2000, Niedersachsenstadion.

 

Schon Bild titelte Mitte der Woche "Stoppt Angstgegner 96 Gladbachs Höhenflug?". Und diese Frage stellte sich jedem vor dem Spiel. Mönchengladbach am Scheideweg. Sechs Siege, sechs Unentschieden, sechs Niederlagen. Sechs Punkte sind's / sie klingen hold und rein / voll Phantasie durch' s Aufsteigerleben....

Fever Pitch. Wir denken mit Grausen an Hannover 96. Seit deren Abstieg aus der ersten Liga 1989/90 konnte die Borussia keine Begegnung mehr für sich entscheiden. 1992 die Niederlage im Pokal-Endspiel in Berlin - 3:4 im Elfmeterschießen gegen den Zweitligisten. Und Gedanken an den Moment danach. Wie Zombies wankten wir über die Lindenstrasse in Windberg, uns begegneten Menschen, die entweder den Kopf schüttelten oder weinten oder beides. 1997 wieder das Elfer-Aus gegen die 96er: Diesmal 4:5 in der ersten Runde des DFB-Pokals. Steht dieser unselige Sievers eigentlich immer noch bei denen im Kasten?! Hoffe nicht. Das unerquickliche 2:3- Hinspiel (Ein Kumpel zahlte damals DM 39,-- für die Tribünenkarte in Liga 2! Zu diesem Komplex siehe aktuell http://rp-online.de/fussball/news/000216/fanforscher.shtml) und nun spielen die Niedersachsen schon wieder Schicksal für Borussia?! Oder können wir - jeder ist sich selbst der nächste - im Gegensatz zur Fortuna aus Köln diesmal einen Trainer abschießen?!

Im Zug aus dem malerischen Oberhessen entscheide ich mich. Express hin, Realität her, die Rheinische Post konsequent ignorierend: Holen die Fohlen heute drei Punkte, machen Sie bei der Aufstiegsbande mit. Definitiv. Allerdings fuhr Borussia in Auswärtsspielen erst sieben Punkte ein. In der Gewißheit, daß es seeeehr schwierig wird, stoßen einige hessische Fußballfreunde dazu und man stimmt sich auf das Spiel ein. Licher: Aus dem Herzen der Natur. In Analogie zu den "interessanten" CFC-Fans rufen wir in Kassel-Wilhelmshöhe "Nie-, Nie-, Niederrhein!". Seit dem Rückzug von Hessen Kassel aus der Regionalliga 1997/98 scheint man sich hier nur noch für Eishockey zu interessieren. Wortfetzen von Mitreisenden die sich angesichts von Fußballfans sichtlich unwohl fühlen. "Scheiße hier. Ich glaub' ich geh' in den bewaffneten Untergrund" "Ah, das ist doch die neue In-Disko in Gießen!".

Wie Hannover die Expo2000 bewältigen will, ist mir jedesmal schleierhaft, wenn ich diesen chaotischen Bahnhof betrete. Gemütlich schlenderte man zu Fuß zum Stadion. Die Stimmung im Gästeblock war so bemerkenswert wie der Auftakt des Spiels: Arie van Lent sorgte in der neunten Minute für vergleichbar gute Stimmung bei den Borussenfreunden auf den Balkonen des Niedersachsenstadions. Ein Mann mit Köpfchen. Doch dann besaß Hannover die besseren Spielanteile und dementsprechende Großchancen. Hier hatte Kamps die Gelegenheit sich auszuzeichnen und vereitelte zwei Riesenchancen für die 96er. Doch es kam, wie's kommen mußte: In der 36. Minute konnte uns Uwe einen großartigen Volleyschuss nicht festhalten und ohne größeres Eingreifen von Gladbachs Hintermannschaft schob Stendel den Abpraller aus kürzester Entfernung ins Gehäuse. Nur vier Minuten später erzielte Goran Milovanovic durch einen schön anzusehenden Kopfballheber, bei dem Uwe Kamps leider sehr unentschlossen aussah, das 2:1. Na toll! Das verschlug auch den engagierten Gladbachfans die Sprache. Mit diesem Ergebnis ging es in die Halbzeitpause. Vorher hatte Marcelo Pletsch die Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen, als er beim Warmlaufen einen Ball, der weit am Mönchengladbacher Kasten vorbeiging, virtuos annahm und stoppte.

Die zweite Halbzeit begann mit einem offenen Schlagabtausch, das Spiel wog hin und her, wobei Borussia viel über die Flügel spielte. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang die Kondition von Alten Herren Frontzeck! Daniel Stendel hatte durch einen Pfostenschuß die beste Chance auf ein Tor. Pffff. Aufatmen! Hinter mir meinte ein besonders lethargischer Fußballfreund. "Was wollt ihr denn? Is' doch Einwurf für Gladbach" Tolles Gottvertrauen. Und dann lief's wirklich rund für Borussia: Kamps hielt den Elfmeter von Milovanovic, der selbst aus 120 Metern Entfernung wie eine bessere Rückgabe aussah. Die Pocke geht rein und der Käse ist gegessen. Glück gehabt, wie auch bei dem Pfostenschuss und dem Alleingang von Morad Bounoua. Überhaupt spielte Hannover in der zweiten Halbzeit nur noch auf Konter und hätte mit mehr Fortune Gladbach nach Hause schießen können. Sehr sattelfest sah die Abwehr und das Mittelfeld in der Rückwärtsbewegung nicht aus. Hier besteht noch Optimierungsbedarf. Nach dem 2:2-Ausgleich durch den traumhaften Freistoß von Asanin spielte Borussia weiter offensiv, gab sich nicht mit einem Punkt zufrieden, lief zwar Gefahr in Konter zu laufen (Sattelfestigkeit der Abwehr siehe oben) aber wollte den Dreier. Und den bekamen wir, denn langsam entwickelt sich Arie van Lent zu dem Knipser, zu dem ihn der Express immer schreibt. Er ackerte wie gewohnt und mit seinen beiden Kopfballtreffern erhöhte er sein Trefferkonto auf 8 Saisontreffer und bleibt weiter unangefochten Borussias bester Schütze. Das Spiel war ein Wechselbad der Gefühle, sehr viele Kassandren maulten noch in der Halbzeitpause: "Ach, Gladbach fährt hier mit 'ner 4:1-Packung nach Hause" usw. Auch diese Fans ließen sich sehr gerne in letzter Minute von Arie van Lent eines besseren belehren. Er köpfte den Siegtreffer für Borussia Mönchengladbach und löste unglaublichen Jubel auf einem Teil der Ränge aus; Rock'n'Roll bei den 3.000 mitgereisten Gladbacher Fans. Die Borussia aus Mönchengladbach hatte soeben den Angstgegner besiegt Nach elf Jahren!. Damit hält der Gladbacher Aufwärtstrend an. Alles in allem sah man ein sehr gutes Zweitligaspiel. So kann's weitergehen, endlich kann man mal zufrieden nach Hause fahren, das Schlachtenglück war uns hold und man konnte selbstsicher feststellen: "Ihr könnt nach Braunschweig fahren!"

Das wird Hannover 96 aber nicht müssen, mit dieser Leistung und ein bißchen mehr Glück gegen andere, werden Sie - trotz der Tabellensituation - mit dem Abstiegskampf in bälde nichts mehr zu tun haben.

Noch ein Wort zu Uwe Kamps. Er hat sicher einen großen Anteil am Gladbacher Erfolg. Und doch war es wie immer in den letzten 18 Jahren: Auf der Linie Weltklasse, beim Rauslaufen Kreisklasse.

A propos: Thema Modefans. Letzte Woche gegen Chemnitz waren, die 500 CFC-Fans abziehend, mehr als 20.000 Zuschauer beim Rückrundenauftakt am Bökelberg. Selbst die Kölner-FC-Anhänger, nicht gerade unsere Busenfreunde, schafften es 9000 von 15.000 Besuchern im Niederrheinstadion zu Oberhausen zu stellen. Der krasse Gegensatz dazu: Das zweite DFB-Pokalhalbfinale in München! 10.000 Menschen verloren sich im Olympiastadion. Und dabei waren schon jede Menge Hansasupporter mit eingerechnet. Manchmal weiß man wirklich nicht mehr, wie weit die Entfremdung zwischen Fans und Stars geht. Das absolute Gegengift für diese Zustände, wenn auch aus der Abteilung Traumtänzerei: Am Ende der Saison sollten der 1. FC. Köln, Alemannia Aachen und die wahre Borussia aufsteigen. Dann sieht die erste Liga wieder, was Unterstützung der eigenen Mannschaft bedeutet. Hochmotivierte 3.500 Gladbachanhänger in Hannover, erstligareifer Support! Rauch, Halter, das waren schon acht Punkte auf der nach oben offenen Alemannia-Aachen-Skala! So macht es wirklich Spaß! Tschüß Südtribüne!

Unser medienwirksame Trainer konnte das Sahnehäubchen auf diesen erfolgreichen Tag setzen. Angesprochen auf das "leidige" Thema Aufstieg gab er zum besten: "Das sage ich schon seit Wochen! Wir sind der Meisterschaftsfavorit Nr. 1! Köln hat jetzt schon 4 Punkte abgegeben, die sollen sich festhalten, die Kölner!"

Oder wie es in der Gladbachkurve skandiert wurde: "In vier Wochen brennt der Kölner Dom!" So weit wollen wir nicht gehen - die schon traditionellen drei Punkte in Müngersdorf dürften genügen. Glaubt man den Hannoverfans, die in der S-Bahn das Spiel kommentierten, so haben diese nach ihrem Dafürhalten den dritten Aufsteiger gesehen. Da möchte ich ihnen am Ende der Saison nur zu gerne recht geben. Auffällig in diesem Kontext, daß es doch sehr wenig Gladbachfans waren, die nach dem Spiel "Nur ein Jahr, dann sind wir wieder da!" riefen. Offensichtlich hat der meyerische Realismus auch auf die Fohlenanhänger abgefärbt und bis zu einem etwaigen Aufstieg wird noch viel Wasser die Niers herabfließen. Aber erst einmal hat Borussia eine positive Saisonbilanz. Und wie eingangs erwähnt: Holt man in Hannover drei Punkte, geht noch einiges nach oben. Nächsten Montag müssen die dreißig Punkte vollgemacht werden, Karlsruhe kann sich zuhause vor der Regionaliga retten, und dann geht's zum Karneval nach Aachen.

PS: Was ich dringend loswerden muß, weil ich die Biographie in anderthalb Tagen verschlang: Wer einen in Mönchengladbach geborenen oder aufgewachsenen Borussenfan in bälde beschenken will, dem kann ich folgendes Buch nur dringend an's Herz raten: Günter Netzer, Manager und Rebell. Von Helmut Böttiger, Taschenbuch, Preis: 14,90 DM.

Wer etwas über den Gegenentwurf Mönchengladbach, den pragmatischen Geist des niederrheinischen Katholizismus erfahren will, wird hier auf über 30 Seiten mit einer detailversessenen Beschreibung MGs verwöhnt, die seinesgleichen sucht... und vermutlich so nicht finden wird. Der Trialog aus "erweitertem Kunstbegriff" (Beuys, Netzer), rheinischem Katholizismus und Fußball wird eindringlich dargestellt und macht das Buch alleine deswegen zu einem ungeheurem Lesevergnügen. Weitere bibliographische Angaben findet ihr hier.

Das letzte Wort hat [maba]: "Bevor es an weitere Analysen und die Aufarbeitung des Spiels geht, dürfen wir uns jetzt erst einmal uneingeschränkt über den zweiten Auswärtssieg freuen." Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Außer: Ich mußte DM 30,-- für die Karte ausgeben. Und doch saß keiner der ca. tausend Mönchengladbachsupporter in diesem Block auf seinem Hartschalensitz. Wie denn auch, bei so einem mitreißenden Spiel!

Heiko Schomberg.

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